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Anthropophagie

Kannibalismus: Warum Menschen Menschen essen

  • Aktualisiert: 23.07.2024
  • 04:39 Uhr
  • Julia Wolfer

Menschen, die andere Menschen ganz oder teilweise verspeisen: Das klingt gruselig, war früher jedoch verbreitet - auch in Europa. Was sagt die Wissenschaft dazu, welche Arten von Kannibalismus es gibt und seit wann er fast überall verboten ist.

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Kannibalismus: Das Wichtigste zum Thema

  • Unter Kannibalismus versteht man den Verzehr von Artgenossen oder Teilen davon. Bei Menschen nennt man Kannibalismus auch Anthropophagie.

  • Für Kannibalismus gibt es unterschiedliche Motive, zum Beispiel rituelle oder religiöse Gründe oder Nahrungsmangel.

  • In Europa glaubte man noch bis ins 18. Jahrhundert hinein, der Verzehr von menschlichen Leichenteilen bringe medizinische Vorteile.

  • Heute ist Kannibalismus in fast allen menschlichen Kulturen tabu. Doch immer wieder gibt es Berichte über schaurige Einzelfälle.

Inhalt

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Gab und gibt es Kannibal:innen überhaupt?

Jahrhundertelang berichteten Reisende, Missionare und Kolonialherren von "Wilden" in Amerika, Afrika und der Südsee, die Menschen verspeisen. Aber stimmen die schaurigen Schilderungen tatsächlich - oder sind die Geschichten von Kannibalen und Menschenfressern nur ein rassistischer Mythos?

  • In vielen Fällen mögen die Berichte auf Missverständnissen beruhen: Eine Kommunikation zwischen Entdeckern und fremden Kulturen war nur über Zeichensprache möglich und entsprechend schwierig.
  • Die Reiseberichte wurden von Kolonialmächten aber auch benutzt, um die indigene Bevölkerung als barbarisch und unmenschlich darzustellen und ihre Unterdrückung zu legitimieren. Die Darstellungen wurden für diesen Zweck häufig übertrieben oder sogar erfunden.
  • Es gibt jedoch tatsächlich historische und archäologische Hinweise, dass Kannibalismus in einigen Kulturen früher häufiger praktiziert wurde - auch in Europa.

➡️ Bis ins 18. Jahrhundert hinein glaubte man in Europa, dass der Verzehr von menschlichen Leichenteilen medizinischen Nutzen habe. Blut, Fett und Muskelfleisch von Hingerichteten wurden zu Pulvern, Elixieren oder Salben verarbeitet und sollten bei Krankheiten wie Gicht oder Arthrose Linderung verschaffen.

Heute ist Kannibalismus in fast allen menschlichen Kulturen mit einem strengen Tabu belegt. Immer wieder gibt es jedoch Berichte, dass Kannibalismus auf Papua-Neuguinea im südwestlichen Pazifik praktiziert werde. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts soll das Volk der Korowai dort rituellen Kannibalismus praktiziert haben. Aktuellere Berichte beziehen sich jedoch meist auf Einzelfälle, wie zum Beispiel den Fall einer Kannibalismus-Sekte, die 2012 von der Polizei festgenommen wurde. Kannibalismus ist in Papua-Neuguinea illegal.

➡️ Solche Einzelfälle treten aber nicht nur im entlegenen Pazifik auf: 2002 sorgte der sogenannte "Kannibale von Rotenburg" in Deutschland für Schlagzeilen. Er soll ein angeblich freiwilliges Opfer getötet und anschließend teilweise verspeist haben.

Auch in Extremsituationen, wie zum Beispiel nach dem Flugzeugabsturz 1972 in den Anden, kann Kannibalismus auftreten. Das Flugzeug zerschellte damals im Gebirge, einige Passagiere starben sofort, andere erfroren. Nachdem die Überlebenden nichts mehr zu essen hatten, ernährten sie sich vom Fleisch der Toten. Nach mehr als zwei Monaten wurden 16 Überlebende aus den Anden gerettet.

Gab es Kannibalen tatsächlich - oder sind die Geschichten von Menschenfressern nur ein rassistischer Mythos?
Gab es Kannibalen tatsächlich - oder sind die Geschichten von Menschenfressern nur ein rassistischer Mythos?© Imago Images / UIG
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Woher kommt der Name Kannibale?

Der Begriff "Kannibalen" stammt aus der Zeit der Entdeckungsreisen im 15. Jahrhundert. Als Christoph Kolumbus 1492 vor der Küste Amerikas die Bahamas und die Großen Antillen erreichte, sollen ihm Einheimische von "Menschenfressern" in der Nachbarschaft berichtet haben, den sogenannten Kariben.

Der spanische Entdecker verwendete das Wort "Karibes" oder "Caribes" als Synonym für Kannibalismus. Daraus entwickelte sich zunächst das Wort "Canibes" und im 16. Jahrhundert schließlich "Canibales".

➡️ Der Begriff wurde in vielen europäischen Sprachen übernommen, allerdings haben weder Kolumbus noch spätere Reisende je beobachtet, dass die Kariben tatsächlich Menschenfleisch verzehrten.

Warum essen Menschen andere Menschen?

  • Ritueller und religiöser Kannibalismus: In einigen Kulturen wurde Kannibalismus, teilweise durch Menschenopfer, rituell praktiziert, zum Beispiel bei den Azteken, wo es im Rahmen religiöser Zeremonien stattfand. Auch in bestimmten afrikanischen Stämmen und bei indigenen Völkern in Südamerika, Ozeanien und China gab es rituelle Formen des Kannibalismus. Dadurch sollten die Kräfte der Verstorbenen auf die Lebenden übertragen oder die Seele der Verstorbenen erhalten werden.
  • Endo-Kannibalismus: Bei dieser Form von Kannibalismus werden verstorbene Mitglieder der eigenen Gemeinschaft verzehrt. Dies kann ein Ausdruck von Respekt und Verehrung sein: Durch den Verzehr wird die Seele des Verstorbenen erhalten.
  • Kriegerischer Kannibalismus: In einigen Kulturen wurde Kannibalismus als Teil kriegerischer Rituale praktiziert. Es gibt Berichte über Krieger, die das Fleisch ihrer Feinde aßen, um deren Stärke und Mut zu übernehmen.
  • Überlebens-Kannibalismus: Kannibalismus aus Notwendigkeit, insbesondere in extremen Notsituationen wie Hungersnöten, Schiffbrüchen oder Belagerungen, ist gut dokumentiert. Ein bekanntes Beispiel ist der Flugzeugabsturz in den Anden 1972 oder die Donner Party in den USA. Während des Winters 1846/47 wurde eine Gruppe von Pionieren in der Sierra Nevada eingeschneit. 34 der ursprünglich 81 Siedler:innen starben. Die restlichen 47 Pionier:innen konnten nur durch Kannibalismus überleben.
  • Medizinischer Kannibalismus: Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurden in Europa menschliche Körperteile oder Substanzen als Heilmittel in der Medizin verwendet. Das Blut Hingerichteter sollte die Vitalität und Gesundheit wiederherstellen, Knochenpulver wurde bei Epilepsie eingesetzt. Mumien galten sogar bis in die 1920er-Jahre als wirkungsvolles Heilmittel gegen verschiedene Leiden. Oft aus Ägypten importiert, wurden sie zu feinem Pulver verarbeitet und innerlich wie äußerlich angewendet.
  • Pathologischer Kannibalismus: Diese Form betrifft individuelle Handlungen, die aus psychischen Störungen resultieren. Bekannte Fälle sind Serienmörder oder Einzelpersonen, die aus persönlichen Motiven handeln, wie der "Kannibale von Rotenburg" oder Jeffrey Dahmer.
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Menschenfresser: Welche archäologischen Funde gibt es?

Lange Zeit wurden zertrümmerte Knochen, Gebeine mit Hack- und Schnittspuren oder geöffnete Schädel bei archäologischen Ausgrabungen als Hinweise auf Kannibalismus gedeutet. Spätere Untersuchungen stellten diese Deutungen aber oft infrage.

So wurden zerschlagene Neandertaler-Knochen aus der Krapina-Höhle in Kroatien bei einer Ausgrabung 1899 als Beweis für rituellen Kannibalismus interpretiert. Neuere Untersuchungen legen jedoch nahe, dass die Knochen bei den Grabungen beschädigt wurden, bei denen auch Dynamit eingesetzt wurde. Zwar wurde das Muskelfleisch tatsächlich von den Knochen abgeschabt, aber das allein ist noch kein Beweis für Kannibalismus. Möglicherweise handelte es sich dabei auch um eine Art Abschieds-Zeremonie.

Weitere Belege für mögliche Kannibalismus-Praktiken finden sich in Höhlen im Hortus-Massiv und der Höhle von Les Rois, beides in Frankreich, wobei auch hier Zweifel bestehen. Funde aus der Jungsteinzeit, etwa aus der Jungfernhöhle in Franken oder aus Herxheim in Rheinland-Pfalz, zeigen Schnittspuren und lösten eine Kontroverse über Kannibalismus aus.

Im Clip: Kannibalismus bei Walen

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Kannibalismus in Filmen und Serien

Nicht nur in Zeiten des Kolonialismus waren Menschen von Geschichten über Kannibalen gleichermaßen abgestoßen wie fasziniert.

Die Geschichte des "Kannibalen von Rotenburg" wurde verfilmt. Über den Serienmörder Jeffrey Dahmer, der an seinen Opfern teilweise Kannibalismus praktizierte, erschien 2002 der Film "Dahmer" und 2022 die Netflix-Serie "Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer". 2023 wurde auch der Fall der 1972 in den Anden abgestürzten Rugby-Mannschaft in der Netflix-Serie "Die Schneegesellschaft" aufgearbeitet.

Insbesondere im Horror-Genre ist Kannibalismus ein wiederkehrendes Element, etwa in der Serie "Human Meat - Mörder. Kannibale. Zombie." oder in "Hannibal", die sich um den fiktiven Charakter Dr. Hannibal Lecter aus "Das Schweigen der Lämmer" dreht.

Die wichtigsten Fragen zu Kannibalen

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